Schneetechnische Analyse des Lawinenunfalls Vertainspitze Nordwand am 01.11.2025 und aktuelle Situation

Am vergangenen Samstag, 1. November, hat sich am späten Nachmittag gegen 15:45 Uhr in der Nordwand der Vertainspitze ein tragischer Lawinenunfall ereignet bei dem fünf Bergsteiger:innen ums Leben kamen. Bei der Lawine handelte es sich um eine mittelgroße (Größe 2), trockene Schneebrettlawine; die Höchstquote des Anbruchs lag bei ca. 3460 m. Die Anbruchmächtigkeit wurde auf etwa 20 cm geschätzt, die maximale Steilheit im Anbruchgebiet liegt im Bereich von ca. 45°.

Im Bild der großflächige Anbruch der Unfalllawine im obersten, schon weniger steilen Teil der Vertainspitze Nordwand. (Foto: Bergrettung Sulden, 01.11.2025)

Es waren sieben Personen in der Wand unterwegs, zwei Zweiergruppen und eine Dreiergruppe. Eine der beiden Zweiergruppen befand sich bereits im obersten Wandteil, als sich plötzlich eine Lawine löste und die beiden Kletterer mit sich riss. Weiter unten in der Sturzbahn riss die Lawine noch die Dreierseilschaft mit in die Tiefe. Die andere Zweiergruppe hingegen blieb von der Lawine unberührt und entging dem Unfall. Sie setzten sogleich den Notruf ab.

Die Bergrettung konnte die Dreierseilschaft noch vor Einbruch der Dunkelheit bergen, die Zweierseilschaft wurde erst am Sonntag aufgefunden und geborgen.

Blick vom Piz Chavalatsch Richtung Ortlergruppe. Der rote Kreis zeigt die Vertainspitze kurz nach dem Unfall um 16:00 Uhr am Unfalltag. Auch wenn tagsüber immer wieder ein paar Wolken durchzogen, waren die Wetterbedingungen nicht schlecht. (Foto: www.fotowebcam.eu, 01.11.2025)

Aufgrund des extremen Steilgeländes und der Schneefälle am Sonntagnachmittag samt starkem Wind war ein Lokalaugenschein nicht möglich, wodurch auch keine Schneedeckenuntersuchung im Anbruchgebiet erfolgte. Trotzdem können wir uns ein paar Gedanken zum Schneedeckenaufbau machen.

Im Bild die Messwerte des Schneemessfeldes Madritsch (2825 m) seit Anfang September. Sie befindet sich in Sulden in einigen Kilometern Entfernung zur Vertainspitze. Man sieht, dass es schon einige Male geschneit hat aber auch, dass es auch längere milde Phasen gegeben hat und der Schnee wieder geschmolzen ist. (Quelle: https://lawinen.report/weather/stations )

Neuschnee kann im Spätherbst besonders im vergletscherten, schattigen Steilgelände in der Höhe liegen bleiben und sich je nach Witterungsverhältnissen aufbauend umwandeln (speziell bei klaren Nächten). Dadurch bilden sich bindungslose, kantige Kristalle. Zugleich kann es auch noch bis weit hinauf regnen oder milde Wetterphasen können die Schneedecke zum Schmelzen bringen. Eine Abfolge von solchen Ereignissen führt dann zu einer Schneedecke, die aus Schmelzharschkrusten und kantig aufgebauten Schichten dazwischen besteht (wir bezeichnen dies als Krustensandwich, er ist typisch für ein Altschneeproblem).

Die Daten der Wetterstationen bestätigen einen derartigen Witterungsverlauf und eine Schneedeckenuntersuchung auf dem Stubaier Gletscher in Nordtirol zeigt ein solches Krustensandwich auf vergletschertem Gelände (siehe dazu den Blogeintrag unserer Kollegen vom Lawinenwarndienst Tirol). Betrachtet man weiters das Bild der Unfalllawine (siehe weiter oben) genauer, sieht man, dass es sich um einen großflächigen Anbruch handelt, d.h. Schwachschicht und Brett müssen flächig vorhanden gewesen sein. Wir gehen deshalb von einem Altschneeproblem aus, das sich auf steilen, v.a. nordexponierten Gletschern gebildet hat. Etwas Neuschnee in Kombination mit Wind bzw. möglicherweise auch die feuchten Luftmassen am Sonntagnachmittag haben dann dazu geführt, dass an der Oberfläche eine gebundene Schneeschicht lagerte (Schneebrett). Somit waren die Bedingungen für eine Schneebrettlawine gegeben.

Wie schon im letzten Blogeintrag „Über die Lawinengefahr in Eiswänden – Kurzer Blick auf die aktuelle Situation“ hingewiesen, möchten wir unterstreichen, dass v.a. in steilen Eiswänden und allgemeine auf Gletschern der Schneedeckenaufbau schon im Spätherbst bzw. Frühwinter nach den ersten Schneefällen für Lawinen in Frage kommt und dies vor Ort berücksichtigt werden muss.

Aktuelle Lage

Am Sonntag brachte zunächst eine eher milde, südliche Anströmung Niederschläge nach Südtirol. Die Schneefallgrenze lag bei 2400 m. Am Abend überquerte eine Kaltfront mit Sturm das Land, mit ihr drehte der Wind auf Nord und mit den kälteren Luftmassen sank die Schneefallgrenze bis auf 1500 m, teilweise auch tiefer. Oberhalb der Waldgrenze fielen zwischen 20 und 40 cm Schnee, stellenweise auch mehr.

Schneehöhendifferenz zwischen Sonntag 02.11.2025 01:00 Uhr und Montag 03.11.2025 01:00 Uhr.
Winterliche Stimmung in Sulden am Montag nach den Schneefällen von Sonntag. (Foto: Webcam Kanzel, 03.11.2025)

Lawinengefahr und Ausblick

Während der Schneefälle wehte der Wind teils stark aus unterschiedlichen Richtungen und besonders in Schattenhängen in der Höhe bildeten sich störungsanfällige aber meist eher kleine Triebschneepakete. Im Hochgebirge (besonders auf Gletscherflächen) können Lawinen stellenweise auch im Altschnee ausgelöst werden und mitunter mittlere Dimension erreichen.

In den nächsten Tagen bestimmen hoher Luftdruck und milde Temperaturen unser Wetter, damit geht die Lawinengefahr langsam zurück. Größere Neuschneemengen sind in nächster Zeit nicht prognostiziert.

Neuschneeprognose für die Grödner Dolomiten: bis Mitte November sind keine Niederschläge in Aussicht. (Quelle: Geosphere Austria)