Lawinenunfallanalyse „Stoankarl“ – Tiergarten Spitz – Graun im Vinschgau, 02.04.2023 — Aktuelle Situation und kurzer Ausblick

 Lawinenunfall „Stoankarl“ – Tiergarten Spitz – Graun im Vinschgau – 02.04.2023

Am Sonntagmorgen kam es im sogenannten „Stoankarl“ im Aufstieg auf den Gipfel der Tiergarten Spitz (3068 m) in Langtaufers zu einem Lawinenunfall. Dabei wurden sieben Personen von der Lawine mitgerissen: Vier Personen wurden nur teilweise verschüttet, drei wurden komplett verschüttet. Von den drei verschütteten Skitourengehern konnten zwei Personen nicht mehr gerettet werden, eine Person überlebte den Unfall schwer verletzt.

Unfalllawine vom Hubschrauber aus gesehen. (Foto: Armin Plangger, 02.04.2023)
Unfalllawine vom Hubschrauber aus gesehen. (Foto: Armin Plangger, 02.04.2023)

Die Unfalllawine ist im Anbruch ca. 150 m breit und ca. 450 lang. (Foto: Lawinenwarndienst Südtirol, 03.04.2023)
Die Unfalllawine ist im Anbruch ca. 150 m breit und ca. 450 lang. (Foto: Lawinenwarndienst Südtirol, 03.04.2023)

Bei dieser Lawine handelt es sich um eine trockene, große Schneebrettlawine (Größe 3), die auf ca. 2870 m im nordnordost-exponierten Gelände angebrochen ist. Im Bereich des Anbruches war das Gelände zwischen 35° und 40° steil.

Einen Tag nach dem Unfall waren wir für einen Lokalaugenschein vor Ort, um uns den Schneedeckenaufbau genauer anzuschauen. Dabei haben wir im Anbruchbereich, orografisch links der Anbruchkante auf ca. 2850 m eine Schneedeckenuntersuchung durchgeführt:

Im obersten Bereich der Schneedecke sieht man ein paar cm Neuschnee, der in der Nacht nach dem Unfall gefallen war. Darunter erkennt man das Schneebrett (Triebschnee), das auf einer dünnen kantig aufgebauten Schwachschicht (bei 110 cm) lagert, die sich über der Kruste gebildet hatte. In dieser Schwachschicht konnten wir einen Bruch initiieren, jedoch ohne die Fortpflanzung (wahrscheinlich waren die Bretteigenschaften am Profilstandort nicht ideal). Unterhalb der Kruste ist die Altschneedecke kantig und kantig abgerundet und etwas härter bevor die über einen halben Meter dicke sehr schlechte Basis aus Schwimmschnee ins Auge sticht.
Im obersten Bereich der Schneedecke sieht man ein paar cm Neuschnee, der in der Nacht nach dem Unfall gefallen war. Darunter erkennt man das Schneebrett (Triebschnee), das auf einer dünnen kantig aufgebauten Schwachschicht (bei 110 cm) lagert, die sich über der Kruste gebildet hatte. In dieser Schwachschicht konnten wir einen Bruch initiieren, jedoch ohne die Fortpflanzung (wahrscheinlich waren die Bretteigenschaften am Profilstandort nicht ideal). Unterhalb der Kruste ist die Altschneedecke kantig und kantig abgerundet und etwas härter bevor die über einen halben Meter dicke sehr schlechte Basis aus Schwimmschnee ins Auge sticht.

Wie konnte sich diese Schwachschicht auf der Kruste der Altschneedecke aber bilden? Wahrscheinlich haben wir es mit dem Gefahrenmuster kalt auf warm / warm auf kalt zu tun. Ab Mitte März bis zum 25. März war es auf den Bergen recht mild, die Schneedecke wurde zusehends durchfeuchtet, es kam auch zu Unfällen mit Nassschneelawinen (siehe vorhergehende Blog-Einträge). Danach sanken die Temperaturen und in der Woche vor dem Unfall gab es immer wieder etwas Neuschnee. Damit gibt es besonders am Übergang von der Altschneedecke zum Neuschnee große Temperaturunterschiede, die die aufbauende Umwandlung der Schneedecke in diesem Bereich fördern und eine Schwachschicht entstehen lassen. Als dann noch der Wind im oberen Bereich des Hanges Triebschnee gebildet hatte, waren die Voraussetzungen für eine Schneebrettlawine gegeben.

Messwerte des automatischen Schneemessfelds Pratznerberg nördlich von Melag auf 2450 m. Ab dem 24. März hat es immer wieder etwas Neuschnee gegeben, gleichzeitig sind die Temperaturen gesunken, mit einer kurzen wärmeren Phase am 29. und 30. März. Auch der Wind wehte vor dem Unfall immer wieder über Verfrachtungsstärke.
Messwerte des automatischen Schneemessfelds Pratznerberg nördlich von Melag auf 2450 m. Ab dem 24. März hat es immer wieder etwas Neuschnee gegeben, gleichzeitig sind die Temperaturen gesunken, mit einer kurzen wärmeren Phase am 29. und 30. März. Auch der Wind wehte vor dem Unfall immer wieder über Verfrachtungsstärke.
Ein sehr beeindruckendes Bild - eine Lawine mit zwei Anbruchkanten. Wahrscheinlich löste sich zuerst der frische Triebschnee, der auf der flächig vorhandenen Schwachschicht oberhalb der Kruste lagerte. Durch die Zusatzbelastung der anbrechenden Schneemassen brach in der Folge die Lawine bis in die schwach Basis aus Schwimmschnee durch. Damit konnte die Lawine erst diese Größe erreichen. (Foto: Lawinenwarndienst Südtirol, 03.04.2023)
Ein sehr beeindruckendes Bild – eine Lawine mit zwei Anbruchkanten. Wahrscheinlich löste sich zuerst der frische Triebschnee, der auf der flächig vorhandenen Schwachschicht oberhalb der Kruste lagerte. Durch die Zusatzbelastung der anbrechenden Schneemassen brach in der Folge die Lawine bis in die schwach Basis aus Schwimmschnee durch. Damit konnte die Lawine erst diese Größe erreichen. (Foto: Lawinenwarndienst Südtirol, 03.04.2023)
Auch in diesem Bild aus dem Rettungshubschrauber kann man die zwei Anbrüche gut erkennen. Die Lawine ist teilweise bis zum Boden durchgebrochen. (Foto: Armin Plangger, 02.04.2023)
Auch in diesem Bild aus dem Rettungshubschrauber kann man die zwei Anbrüche gut erkennen. Die Lawine ist teilweise bis zum Boden durchgebrochen. (Foto: Armin Plangger, 02.04.2023)

Kartografie der Unfalllawine.
Kartografie der Unfalllawine.

Aktuelle Situation und kurzer Ausblick:

Auf unseren Bergen liegt meist deutlich weniger Schnee als für diese Jahreszeit üblich. Sonnenhänge sind oft bis weit hinauf aper, in den schneereicheren Gebieten am Alpenhauptkamm ist die Schneedecke zum Teil noch unter 2000 m zusammenhängend. Im Großteil des Landes gehen wir mittlerweile von geringer Lawinengefahr der Stufe 1 aus. Oberhalb von ca. 2600 m gilt es jedoch noch frischen Triebschnee zu beachten. Neben der Verschüttungsgefahr gilt es im extremen Gelände die Absturzgefahr zu bedenken.

Am Ortler und am Alpenhauptkamm gilt es zusätzlich zum Triebschnee noch auf das oberflächennahe Altschneeproblem (kalt auf  warm / warm auf kalt) zu achten, das wir besonders in der Höhe in Sonnenhängen und vereinzelt auch in Schattenhängen antreffen.

Nennenswerter Niederschlag ist keiner in Sicht.

In windberuhigten, wenig der Sonne exponierten Lagen lässt sich aufgrund der tiefen Temperaturen schöner Pulverschnee genießen. (Foto: Florian Leitner, 02.04.2023)
In windberuhigten, wenig der Sonne exponierten, hohen Lagen lässt sich aufgrund der tiefen Temperaturen schöner Pulverschnee genießen. (Foto: Florian Leitner, 02.04.2023)