Lawinenanriss Niedertal

Lawinenunfall Niedertal inkl. Ausblick auf das Wochenende

Am 11.04.2024 befand sich eine Gruppe von 21 Personen im Aufstieg von Vent über das Niedertal in Richtung Martin-Busch-Hütte. Unterhalb der Talleitspitze wurden mehrere Personen von einer spontanen Nassschneelawine erfasst. 3 Personen verstarben aufgrund des Lawinenabgangs, 1 Person wurde verletzt.

Unfallhergang

Eine Gruppe von 17 Niederländern und 4 Einheimischen wollte von Vent zur Martin-Busch-Hütte aufsteigen. Kurz vor 11:00 Uhr löste sich ca. 800 Höhenmeter oberhalb der Gruppe im extrem steilen Gelände primär eine Lockerschneelawine, die in der Sturzbahn immer mehr Schnee mitriss. Die Lawine wurde in einer Runse kanalisiert und breitete sich etwas oberhalb des Aufstiegsweges zur Hütte fächerförmig aus. Einige Personen wurden von der Lawine erfasst, wovon 3 Personen nur mehr tot geborgen werden konnten. 1 Person wurde mit Verletzungen ins Krankenhaus geflogen.

Eingefärbt ist die Unfalllawine. Die blauen Pfeile markieren die Aufstiegsroute zur Martin-Busch-Hütte (roter Kreis) durch das Niedertal. (Foto: 11.04.2024 © Alpinpolizei)
Eingefärbt ist die Unfalllawine. Die blauen Pfeile markieren die Aufstiegsroute zur Martin-Busch-Hütte (roter Kreis) durch das Niedertal. (Foto: 11.04.2024 © Alpinpolizei)
Die Lawine löste sich unterhalb der Talleitspitze
Die Lawine löste sich unterhalb der Talleitspitze in einer Seehöhe von etwa 3000m

Schwierige Suchaktion

Bei der Erstmeldung über die Leitstelle Tirol wurde anfangs von 10 Verschütteten, später dann sogar von bis zu 18 Verschütteten ausgegangen. Dies führte zu einem Großaufgebot an Rettungskräften (3 Notarzthubschrauber, Landeshubschrauber, sämtliche Bergrettungsortstellen des Ötztals, weitere Blaulichtorganisationen, Lawinenhundeführer, Alpinpolizisten). Rasch konnten die ersten Personen geortet bzw. eine bereits verstorbene Person auf dem Lawinenkegel aufgefunden werden. Da während der Suchaktion weitere Lawinen abgingen, konzentrierte man sich darauf, sämtliche nicht verschüttete Personen, aber auch am Unfall unbeteiligte Personen, die sich im Aufstieg zur Martin-Busch-Hütte befanden, auszufliegen. Um die Suchaktion möglichst gefahrlos fortzuführen, wurde in Erwägung gezogen, im Einzugsgebiet Lawinensprengungen durchzuführen. Davon wurde jedoch Abstand genommen, auch deshalb, weil sich das anfänglich diffuse Gesamtbild immer klarer gestaltete. Man wusste schlussendlich, dass noch eine tief verschüttete und bereits teilweise ausgegrabene Person noch fehlte. Diese Person wurde schlussendlich von Rettungskräften, die am Tau eines Hubschrauber gesichert waren, ausgegraben. Als Lawinenposten dienten parallel weitere Hubschrauber.

Unfallanalyse

Lawinenart

Bei der Lawine handelte es sich primär um eine spontane Lockerschneelawine. Diese löste sich unterhalb der Talleitspitze in einer Höhe von etwa 3000m im extrem steilen, SO ausgerichteten Gelände. In der Sturzbahn riss diese Lockerschneelawine in tiefere, bereits durchnässte Schichten bis zum Boden durch. In Folge gab diese nasse Schneemasse den Impuls für den Abgang einer ca. 20m breiten Schneebrettlawine, orographisch rechts der Sturzbahn der Lockerschneelawine. Der Anriss der Schneebrettlawine befand sich in einer Seehöhe von etwa 2850m. Schlussendlich entwickelte sich aus einer kleinen Lockerschneelawine eine große Nassschneelawine.

Das Anrissgebiet der Lawine. Mit "1" ist der Ausgangspunkt der Lockerschneelawine markiert. Unterhalb von "2" riss die Schneedecke erstmals in Form einer nassen Lockerschneelawine bis zum Grund durch. "3" markiert dann das seitlich versetzte, schlussendlich ausgelöste Schneebrett. (Foto: 12.04.2024 © LWD Tirol)
Das Anrissgebiet der Lawine: Mit „1“ ist der Ausgangspunkt der Lockerschneelawine markiert. Unterhalb von „2“ riss die Schneedecke erstmals in Form einer nassen Lockerschneelawine bis zum Grund durch. „3“ markiert dann das seitlich versetzte, schlussendlich ausgelöste Schneebrett. (Foto: 12.04.2024 © LWD Tirol)

Wetterverlauf

Vergangenes Wochenende erlebten wir für die Jahreszeit außergewöhnlich warme Temperaturen. Eine Kaltfront beendete am Dienstag, den 09.04. (kurzfristig) diese warme Wetterphase. Im Unfallgebiet schneite es etwa 20cm. Während des Schneefalls nahm der Wind deutlich ab. Am 11.04. besserte sich das Wetter rasch. Die Temperatur stieg neuerlich markant an.

Die Karte zeigt die 48h Schneehöhendifferenz ab dem 09.04.2024
Die Karte zeigt die 48h Schneehöhendifferenz ab dem 09.04.2024
Wetterverlauf der vergangenen Woche bei der nahe gelegenen Wetterstation Vorderegg: Anfang der Woche außergewöhnlich warm - Kaltfront am 09.04. bei nachlassendem Wind - Wetterbesserung ab 11.04. mit markantem Temperaturanstieg
Wetterverlauf der vergangenen Woche bei der nahe vom Unglücksort gelegenen Wetterstation Vorderegg: Anfang der Woche außergewöhnlich warm – Kaltfront am 09.04. bei nachlassendem Wind – Wetterbesserung ab 11.04. mit markantem Temperaturanstieg
Vom 09.04. auf den 10.04. wurden bei der Martin-Busch-Hütte 20mm Niederschlag gemessen. Gut zu erkennen auch das Auf und Ab bei den Temperaturen.
Vom 09.04. auf den 10.04. wurden bei der Martin-Busch-Hütte 20mm Niederschlag gemessen. Gut zu erkennen auch das Auf und Ab bei den Temperaturen.

Die Schneedecke

Die warme Witterung hinterließ bei der Schneedecke ihre Spuren. Die Schneedecke wurde weiter durchfeuchtet bzw. tiefgreifend durchnässt, dies in Sonnenhängen bis zumindest 2800m, in Schattenhängen bis etwa 2400m hinauf. Mit der Kaltfront am 09.04. wurde der Neuschnee auf einer meist feuchten bzw. nassen Schneeoberfläche abgelagert. Mit den sinkenden Temperaturen entstand daraus etwas zeitverzögert bis zum 10.04. ein dünner Schmelzharschdeckel. Der darauf abgelagerte Neuschnee war zumindest an der Schneeoberfläche häufig locker, da der Wind im Verlauf des Niederschlags deutlich nachgelassen hatte.

Schneeprofil vom 10.04. unterhalb des Gaislachkogels bei Sölden. 20cm Neuschnee, darunter ein dünner Schmelzharschdeckel aufgrund der Kaltfront vom 09.04.2024. 2900m SW. Unterhalb des Schmelzharschdeckels erreicht die Schneetemperatur rasch wieder 0°C
Schneeprofil vom 10.04. unterhalb des Gaislachkogels bei Sölden. 20cm Neuschnee, darunter ein dünner Schmelzharschdeckel aufgrund der Kaltfront vom 09.04.2024. 2900m SW. Unterhalb des Schmelzharschdeckels erreicht die Schneetemperatur rasch wieder 0°C
Auch beimSchneeprofil vom 11.04. in Kühtai erkennt man den oberflächennahen Harschdeckel. Darüber der bereits sich abbauend umwandelnde Neuschnee. Innerhalb der Altschneedecke konnten an diesem Standort Brüche initiiert werden, die sich auch fortpflanzten.
Auch beim Schneeprofil vom 11.04. in Kühtai erkennt man den oberflächennahen Harschdeckel. Darüber der bereits sich abbauend umwandelnde Neuschnee. Innerhalb der Altschneedecke konnten an diesem Standort Brüche initiiert werden, die sich auch fortpflanzten. NW, 2350m

Heute am 12.04.2024 am Morgen führten wir mit Unterstützung des Landeshubschraubers Schneedeckenuntersuchungen durch. Wir wählten dazu möglichst repräsentative Standorte etwas taleinwärts im Nahbereich der 3455m hohen Kreuzspitze aus.

Landeanflug des Landeshubschraubers im Nahbereich der Kreuzspitze (Foto: 12.04.2024 © LWD Tirol)
Landeanflug des Landeshubschraubers im Nahbereich der Kreuzspitze (Foto: 12.04.2024 © LWD Tirol)

Die Bedingungen hatten sich gegenüber dem gestrigen Unfalltag allerdings insofern gravierend geändert, als dass der von Dienstag, 09.04. auf Mittwoch, 10.04. gefallene Neuschnee am 11.04. durchfeuchtet bzw. durchnässt wurde. Während einer klaren Nacht auf 12.04. bildete sich ein, in der Höhe gut ausgebildeter, tragfähiger Harschdeckel. Darunter war die Schneedecke jedoch, wie auch am Unfalltag feucht bzw. nass.

Schneeprofil Nähe Kreuzspitze: Frisch gebildeter, ca. 20cm dicker Harschdeckel, darunter eine 0°C-isotherme Schneedecke. Im Altschnee war ein Bruch innerhalb einer nassen Schwachschicht aus Schmelzformen und kantig abgerundeten Kristallen möglich.
Schneeprofil Nähe Kreuzspitze auf 3040m / O / 36°: Frisch gebildeter, ca. 20cm dicker Harschdeckel, darunter eine 0°C-isotherme Schneedecke. Im Altschnee war ein Bruch innerhalb einer nassen Schwachschicht aus Schmelzformen und kantig abgerundeten Kristallen möglich.
Schneeprofil Nähe Kreuzspitze auf 2930m / Ost / 35°: Frisch gebildeter, ca. 15cm dicker Harschdeckel, darunter eine homogene, weiche und 0°C-isotherme Schneedecke. Gestern am 11.04. wäre hier (ohne dem ausgeprägten Harschdeckel) keine Bruchfortpflanzung und somit keine Schneebrettbildung möglich gewesen.
Schneeprofil Nähe Kreuzspitze auf 2930m / Ost / 35°: Frisch gebildeter, ca. 15cm dicker Harschdeckel, darunter eine homogene, weiche und 0°C-isotherme Schneedecke. Gestern am 11.04. wäre hier (ohne dem ausgeprägten Harschdeckel) keine Bruchfortpflanzung und somit keine Schneebrettbildung möglich gewesen.

Das Lawinengelände

Der Zustieg zur Martin-Busch-Hütte verläuft unterhalb von extrem steilen Hängen. Das darüber gelegene Einzugsgebiet ist groß, der Höhenunterschied hoch. Somit konnte bei dem Lawinenabgang in Summe auch viel Schnee in der Sturzbahn aufgenommen werden.

Blick von oben zeigt einen Teil des Lawinengeländes und der Sturzbahn. (Foto: 12.04.2024 © LWD Tirol)
Blick von oben zeigt einen Teil des Lawinengeländes und der Sturzbahn. (Foto: 12.04.2024 © LWD Tirol)

Ein Teil der erfassten Personen wurde u.a. auch deshalb so tief verschüttet, weil die Lawinenablagerung in einer Geländefalle, dem engen Talboden, mündet.

Unterer Teil der Lawinenstutzbahn samt Ablagerungsbereich. Bei den roten Kreisen wurden Personen ausgegraben. Die blauen Pfeile markieren den Hüttenzustieg (Foto: 12.04.2024; © LWD Tirol)
Unterer Teil der Lawinenstutzbahn samt Ablagerungsbereich. Bei den roten Kreisen wurden Personen ausgegraben. Die blauen Pfeile markieren den Hüttenzustieg (Foto: 12.04.2024; © LWD Tirol)
Eine der tiefen Verschüttungsstellen (Foto: 11.04.2024; © Alpinpolizei)
Eine der tiefen Verschüttungsstellen (Foto: 11.04.2024; © Alpinpolizei)

Weitere Lawinenaktivität

Uns interessierte heute am 12.04. während unseres Überflugs zum Unfallort auch die Lawinenaktivität des gestrigen Tages als Teil der Verifikation unseres Lawinenreports. Dabei wurden – wie angenommen – viele kleine bis mittelgroße Lockerschneelawinen beobachtet. Mittelgroße Lockerschneelawinen, welche die nasse Schneedecke mitrissen, waren bedeutend seltener zu sehen. Solche, die in Folge Schneebrettlawinen auslösten gab es nur vereinzelt.

Ein typisches Bild: Lockerschneelawinen, die auf der kürzlich gebildeten Schmelzkruste abgingen. (Foto: 12.04.2024; © LWD Tirol)
Ein typisches Bild: Lockerschneelawinen, die auf der kürzlich gebildeten Schmelzkruste abgingen. (Foto: 12.04.2024; © LWD Tirol)
Lockerschneelawine, die in Folge ein kleines Schneebrett auslöste (Foto: 12.04.2024; © LWD Tirol)
Lockerschneelawine, die in Folge ein kleines Schneebrett auslöste (Foto: 12.04.2024; © LWD Tirol)
Die seltene, ähnliche Situation, wie beim Lawinenunglück: Aus einer Lockerschneelawine, die ein Schneebrett auslöste, entwickelte sich eine große Nassschneelawine. Langschneid, Östliche Deferegger Alpen (Foto: 11.04.2024; © Mark Kleinlercher)
Die seltene, ähnliche Situation, wie beim Lawinenunglück: Aus einer Lockerschneelawine, die ein Schneebrett auslöste, entwickelte sich eine große Nassschneelawine. Langschneid, Östliche Deferegger Alpen (Foto: 11.04.2024; © Mark Kleinlercher)

All den Schneebrettlawinen, die durch den Impuls von Lockerschneelawinen ausgelöst wurden, war überdies gemein, dass diese nicht großflächig brachen.

Ausblick auf das kommende Wochenende

Neuerlich wird es für die Jahreszeit überdurchschnittlich warm. Am 13.04. und 14.04. soll die Nullgradgrenze um 3700m liegen. Es überwiegt schönes Wetter. Allerdings werden hohe Schleierwolken durchziehen. Am Montag bringt eine Kaltfront anfangs Regen bis in hohe Lagen.

Die Schneedecke wird während der kommenden Tage tendenziell schlechter gefrieren und die Lawinengefahr rascher ansteigen, als es gerade eben der Fall war. Das Durchreißen der Schneedecke in tiefere Schichten wird wahrscheinlicher. Auch steigt mit der zunehmenden, tiefer greifenden Durchnässung der Schneedecke die Wahrscheinlichkeit von Schneebrettlawinen. Am vergleichsweise gefährdetsten sind steile, eher schneearme Schattenhänge zwischen etwa 2200m und 2600m.

Wir raten deshalb zu einer guten Tourenplanung und guter Zeiteinteilung. Je höher man unterwegs ist, desto günstiger werden die Verhältnisse sein.