Appell zur Zurückhaltung: Kritische Lawinensituation am Wochenende

Viel Neuschnee wird in den kommenden Tagen auf eine schwache Altschneedecke abgelagert. Die Lawinengefahr steigt in ganz Tirol markant an. Am Sonntag, 03.12. erwarten wir dann einen sehr sonnigen, kalten Wintertag. Gepaart mit einer störanfälligen Schneedecke zeichnet sich ein sehr unfallträchtiger Tag ab.

Wir appellieren Touren und Variantenabfahrten möglichst auf mäßig steiles (<30°) Gelände zu beschränken und Bereiche unterhalb von Steilhängen zu meiden (Fernauslösungen).

Entwicklung der Lawinengefahr

Ab morgen Freitag, 01.12. sind bis in die Nachtstunden auf Sonntag, 03.12. ergiebige Niederschläge zu erwarten. Südlich des Inntals kommen auf den Bergen 40 bis 60cm Neuschnee hinzu. In Osttirol ist verbreitet mit 60 bis 80cm zu rechnen. Vor allem entlang des Hauptkamms und in Osttirol weht teils starker Wind. Die Schneefallgrenze liegt am Freitagmittag, 01.12. noch bei rund 1500m (noch recht unsicher!), fällt aber in weiterer Folge sukzessive bis in die Niederungen.

Abb. 1: Neuschneemenge inkl. Setzung bis Sonntag, 03.12. Recht verbreitet ist auf den Bergen mit mehr als einem halben Meter Neuschneezuwachs zu rechnen.
Abb. 2: Besonders ergiebig fallen die Schneefälle in Osttirol aus. Hier eine Vorhersage der Neuschneesumme auf 2500m in der Venedigergruppe.
Abb. 3: Nach anfänglichem Anstieg der Schneefallgrenze am Freitag, 01.12., sinken die Temperaturen anschließend in tief winterliche Bereiche.

Sorgen im Hinblick auf die bevorstehenden Schneefälle bereitet uns in erster Linie der Aufbau der Altschneedecke (siehe weiter unten). Zahlreiche Stabilitätstests und Rückmeldungen zu Setzungsgeräuschen im ganzen Land haben in den vergangenen Tagen bereits die Störanfälligkeit einer Schwachschicht zwischen zwei Schmelzkrusten bestätigt. Derzeit fehlt meist noch ein „gutes“ Schneebrett über der Schwachschicht, sodass sich Brüche über weitere Strecken fortpflanzen können. Mit den bevorstehenden Niederschlägen dürfte aber auch diese – für Lawinen notwendige Bedingung – erfüllt sein.

Die Lawinengefahr steigt mit Beginn der intensiven Niederschläge am Freitagnachmittag, 1.12. allmählich an. Spontane Lawinen sind besonders während Phasen intensiven Schneefalls in der Nacht auf Samstag und am Samstagvormittag wahrscheinlich. Aber auch nach Ende des Niederschlags bleibt die Schneedecke störanfällig. Das heißt auch: am sehr sonnigen Sonntag, 03.12. können Schneebrettlawinen weiterhin an vielen Steilhängen bereits durch einzelne Wintersportler ausgelöst und groß werden! Die meisten Gefahrenstellen finden sich zwischen 2000m und 2600m. Die Schwachschicht erlaubt potenziell auch Auslösungen aus flachem bis mäßig steilem Gelände (Fernauslösungen).

Zudem können Schneebrettlawinen auch in Schwachschichten innerhalb des Neu- und Triebschnees anbrechen. Wie auch beim Altschneeproblem sind hier Gefahrenbereiche im Gelände nur sehr schwer zu identifizieren.

Sein Risiko reduziert man am kommenden Wochenende am besten, wenn man möglichst defensiv unterwegs ist, größere Geländepartien über 30 Grad konsequent meidet und Auslaufbereiche unter Steilhängen umgeht. Spontane Lawinen, Setzungsgeräusche und Risse sind Zeichen hoher Störanfälligkeit!

Schneedeckenaufbau

Mit Ausnahme des zentralen und südlichen Osttirols finden wir derzeit für die Jahreszeit durchschnittliche oder gar überdurchschnittliche Schneehöhen vor. Skitouren und Variantenabfahrten sind vielerorts bereits möglich.

Abb. 4: Modellierte Schneehöhenverteilung. Auf den Bergen ist es schon tief winterlich. Einzig in weiten Teilen Osttirols liegt noch vergleichsweise wenig Schnee – dies ändert sich aber mit dem bevorstehenden Ereignis.

Die Schneeoberfläche zeigt sich aufgrund des stark bis stürmischen Westwinds, welcher das Niederschlagsereignis am vergangenen Wochenende begleitete, recht unregelmäßig. Exponierteres Gelände (v.a. Westhänge) ist mitunter komplett abgeblasen oder bis zu einer härteren Schmelzkruste hin erodiert. In windabgewandten Hängen, in Rinnen oder Mulden liegt oft entsprechend viel Schnee. An windberuhigteren Hängen findet sich hingegen auch oft lockerer Pulverschnee, z.T. mit großen Neuschneekristallen an der Schneeoberfläche. Diese bilden eine potentielle Schwachschicht für den Neu- und Triebschnee, welcher am Wochenende fällt.

Abb. 5: Starker Wind aus westlichen Richtungen hat eine sehr unregelmäßige Schneeoberfläche geschaffen. Blick von der Lampsenspitze in Richtung Lüsener Ferner sowie zur Kräulspitze im Hintergrund (©Martina Ofer, 29.11.2023).
Abb. 6: Schneeverfrachtung an der Jöchelspitze (2226m) in den Allgäuer Alpen (©Mike Perl, 29.11.2023).

Im (je nach Region) unteren bzw. mittleren Teil der Altschneedecke und unterhalb des Schnees der Niederschlagsperiode vom 24. Bis 26. November finden wir derzeit oberhalb rund 2000m sehr verbreitet eine Schwachschicht aus kantigen Kristallen, welche oft zwischen zwei Schmelzkrusten eingelagert ist. Dieses „Krustensandwich“ bringt erfahrungsgemäß große Bruchausbreitungen mit sich, sofern es von einem ausreichend guten Schneebrett überlagert wird. Eine Situation, welche sich in den kommenden Tagen abzeichnet (siehe oben).

Abb. 7: Schneeprofil aus dem hinteren Schmirntal (NW, 2300m, 28°) – stellvertretend für viele Profile aus ganz Tirol: im mittleren Teil der Schneedecke findet man kantige Kristalle unter oder zwischen Schmelzkrusten, welche bei genügend ausgeprägtem Schneebrett zur Bruchausbreitung neigen.
Abb. 8: Große, kantige Kristalle als Folge aufbauender Umwandlung unter großem Temperaturgradienten in der Schneedecke. Besonders entlang von Krusten können diese Schneekristalle eine sehr tückische Schwachschicht darstellen.
Abb. 9: Die Schmelzkruste, an welcher sich kantige Kristalle als Schwachschicht ausgebildet haben, hat sich vermutlich in Folge von Regeneintrag am 18./19. November gebildet.
Abb. 10: Die kleine, fernausgelöste Schneebrettlawine am Schafzöllen (2399m) an einem Osthang auf rund 2200m zeugt von einer gut ausgeprägten Schwachschicht und der stellenweise hohen Störanfälligkeit der Schneedecke (©Luis Hermann, 29.11.2023).

Kurzer Rückblick in Bildern

Abb. 11: Auch kleine und mittlere spontane Gleitschneelawinen, wie hier in den Kitzbüheler Alpen, waren in den letzten Tagen ein Thema (©Bernd Brandstätter, 28.11.2023).
Abb. 12: Gleitschneerisse sind ein Zeichen, dass die Schneedecke in Bewegung ist und gen‘ Tal gleitet. Bereiche darunter sollten möglichst gemieden werden (©Werner Walch, 29.11.2023).
Abb. 13: Vor allem am Mittwoch, 29.11. haben viele SkitourengeherInnen und VariantenfahrerInnen das sonnige Wetter ausgenutzt: in geschützteren Bereichen konnte dabei guter Pulverschnee angetroffen werden (©Alois Mariacher, 29.11.2023).
Abb. 14: Anrissbereich einer mittelgroßen Schneebrettlawine an einem kammnahen Osthang auf rund 2500m am Höllspitz in Paznaun. Eine Person wurde von den Schneemassen mitgerissen, aber nicht verschüttet (©Alpinpolizei, 29.11.2023).
Abb. 15: Gesamtansicht des Lawinenabgangs am Höllspitz. Relevant im Hinblick auf diesen Lawinenabgang war der mit Westwind eingetragene Triebschnee. (©Alpinpolizei, 29.11.2023).